Es ist zum Verzweifeln:
Manchmal unterhalte ich mich minutenlang mit jemanden und habe keinen Schimmer, wer es ist. Sobald ich Menschen an Orten treffe, an denen ich nicht mit ihnen rechne, erkenne ich sie nicht. Lies hier, wie es ist, eine Galerie zu führen und unter Gesichtsblindheit zu leiden.

Eines schönen Tages während meiner Studienzeit in Leipzig:
Ich schlendere durch die Innenstadt. Plötzlich begrüßt mich eine junge Frau mit lockigen Haar und spanischen Akzent sehr herzlich. Sie berichtet mir ganz aufgeregt von ihrem Zahnarzttermin heute. Dann fragt sie mich, wie es mir geht.
Etwas reserviert antworte ich auf ihre Fragen.
Wir unterhalten uns ungefähr zwei Minuten lang, dann gehen wir wieder unsere Wege.
Leider habe ich keine Ahnung, wer sie war. In meinem Kopf rattert es und es lässt mich nicht los. Erst viel später, Abends im Bett, kommt der Aha-Moment:
Es war Susanna, mit der ich mich erst am Tag zuvor (!) mindestens drei Stunden unterhalten habe. Da hatten wir uns in ihrem Wohnheim-Zimmer getroffen und uns die Hälfte der Zeit auf Spanisch und die andere Hälfte auf Deutsch verständigt, denn Susanna ist meine neue Tandem-Partnerin. Es war ein sehr lustiger Abend, weil wir beide noch unsere Probleme mit der Sprache haben. Und ja, sie hatte mir auch von ihren Zahnschmerzen berichtet.
Jetzt ist es mir furchtbar peinlich, dass ich sie heute überhaupt nicht erkannt habe.
Ein paar Jahre später, wieder in der Leipziger Innenstadt:
Dieses Mal in einem Schuhgeschäft:
Eine Frau in rotem Anorak und blonder Kurzhaarfrisur spricht mich an. Sie fragt nach meinem Mann und wie es uns geht. Offensichtlich kennt sie mich. Dann möchte sie wissen, ob wir diesen Sonntag wieder kommen. Erst jetzt macht es Klick - es ist Simone.
Seit über 10 Jahren gehen wir fast jeden Sonntag in denselben Gasthof in Störmthal - um Abendbrot zu essen und gemeinsam mit Freunden die Woche ausklingen zu lassen. Dort bedient uns jedesmal Simone. Oft setzt sie sich noch für ein paar Minuten mit uns an den Tisch. Ich mag sie sehr. Normalerweise trägt sie keinen roten Anorak, sondern ein dunkelgrünes Shirt, auf dem der Spruch des Gasthofes steht.
Heute in meiner Galerie:
Eine Kundin kommt rein und fragt, ob sie das Bild anschauen kann.
Fragezeichen über meinem Kopf: “Welches Bild meinen Sie?”
Sie hatte sich letzte Woche ein Bild angeschaut und es hat ihr gut gefallen, doch sie wollte noch darüber nachdenken. Nun möchte sie es sich nochmal angucken.
Ahh, jetzt, wo sie die Situation erklärt, weiß ich sofort Bescheid und kann ihr das richtige Gemälde zeigen, ich weiß sogar ihren Namen.
Diese Schwierigkeiten hatte ich schon immer:
Früher dachte ich, dass es an meinen Augen liegt, wenn ich jemanden nicht erkannt habe. Zu Schulzeiten wurde ich kurzsichtig und anfangs habe ich meine Brille nur sehr ungern getragen. Mittlerweile habe ich ein hübscheres Brillenmodell, das ich gern aufsetze und zum Glück gibt es Kontaktlinsen.
Die Tatsache, dass ich Leute nicht erkenne, ist leider geblieben.
In Filmen erkenne ich nie die Schauspieler:
Nicht mal die ganz berühmten Stars kann ich zuordnen. Ich sehe immer nur die Person in der Rolle.
Es gibt Filme, da kann ich die Protagonisten nicht unterschieden, weil sie die gleiche Frisur oder Haarfarbe und ein ähnliches Alter haben.
Kennst du die Neuverfilmung von “Departed - unter Feinden”? Matt Damon und Leonardo DiCaprio spielen darin die Hauptrolle - ob du es glaubst oder nicht, für mich sehen sie nahezu gleich aus.
Dafür war ich immer stolz auf meine Fähigkeit, Stimmen zu erkennen. Durch das Synchronisieren haben im Fernsehen verschiedene Menschen die gleiche Stimme, das merke ich sofort. Oft rufe ich aus: “Hey, das ist doch die gleiche Stimme wie von xxx.”
Es ist zum Verzweifeln - ich kann mir einfach keine Gesichter merken
Sobald ich Menschen an Orten treffe, an denen ich nicht mit ihnen rechne, erkenne ich sie nicht. Manchmal unterhalte ich mich minutenlang mit jemanden und habe keinen Schimmer, wer es ist.
Ich glaube ja fast, ich würde meine Eltern nicht grüßen, wenn sie zufällig mit mir in der Straßenbahn säßen. Zum Glück ist so ein Härtetest noch nicht vorgekommen. Solange ich Leute im gewohnten Umfeld begegne, weiß ich genau, wen ich vor mir habe.

Heute weiß ich: Ich leide unter Gesichtsblindheit - Prosopagnosie
Die wichtigste Erkenntnis für mich ist, es hat nichts mit meinem Gedächtnis zu tun. Bisher dachte ich ja, dass ich mir Gesichter einfach nicht merken kann. Das stimmt nicht ganz, denn ich erkenne sie gar nicht erst. Als Beispiel: Wer Rot-Grün-Schwäche hat, für den sieht Rot eben genauso aus wie Grün.
Die Wissenschaft erforscht die Gesichtsblindheit erst seit ein paar Jahren. Es ist nicht ganz klar, wie wir uns Gesichter merken. Offensichtlich funktioniert das anders, als das Erkennen von Gegenständen, denn da habe ich keine Schwierigkeiten. Ich bin auf einen Test der Cambridge University in London zum Thema Gesichtserkennung gestoßen und habe mich ernsthaft bemüht.
Mein Ergebnis waren 60%. Damit habe ich gerade den Grenzwert zu gesichtsblind erreicht - ich bin also betroffen, aber kein extrem schwerer Fall.
Was ich noch über Gesichtsblindheit gelernt habe:
- Etwa 2 % der Menschen können Gesichter außerordentlich gut erkennen und selbst verschwommene Kamera-Bilder richtig zuordnen. Die Polizei sucht händeringend solche Menschen.
- Die Krankheit kann angeboren sein und wird vererbt. Manche bekommen sie erst durch einen Unfall oder einen Schlaganfall.
- Etwa 2-3 % der Menschen sind von Geburt an gesichtsblind, wobei es verschiedene Ausmaße gibt. Viele wissen gar nicht, dass sie darunter leiden.
- Berühmte Persönlichkeiten wie Kronprinzessin Victoria von Schweden leiden ebenfalls darunter. Ihr steht ein Berater zur Seite, der ihr die Namen der Leute zuflüstert, damit sie auf Empfängen nicht ganz hilflos dasteht.
- Dass ich so gut Stimmen zuordnen kann, liegt vermutlich an meiner Gesichtsblindheit. Mein Kopf hat sich andere Wege gesucht, Menschen zu erkennen: Neben dem Kontext, in dem man sich trifft, sind das vor allem Frisur, Gang, Kleidung, Mimik, Verhalten und eben die Stimme und Art zu sprechen.
Weißt du was ich total liebe?
Wenn ich zu meiner Augenoptikerin Frau Lindner gehe und sie mich sofort fröhlich mit meinem Namen anspricht. Das finde ich total klasse.
Ich denke, besonders Menschen, die andere beraten oder verkaufen, brauchen ein gutes Gesichter- und Namensgedächtnis.
Ich führe eine Kunstgalerie:
- Jeden Tag lerne ich neue Menschen kennen und viele kommen gern wieder.
- Mit meinen Veranstaltungen locke ich viele Gäste an.
- Ich fahre zu Kunstmessen und an meinem Stand besuchen mich auch Stammkunden.
- Durch meine Website, auf der ich mich persönlich zeige, haben Viele das Gefühl, mich gut zu kennen.
Aber wenn die Leute mich dann in der Galerie besuchen, habe ich Schwierigkeiten, sie zuzuordnen. Selbst, wenn ich sie schon öfter gesehen habe.
Zudem ist Leipzig nicht so groß: Hier trifft man sich häufig zufällig. Wenn ich Menschen an Orten treffe, an denen ich sie nicht erwarte, wird es richtig schwierig für mich.
Meine große Herausforderung - Menschen erkennen:
Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie erleichtert ich jedesmal bin, wenn ich meine Kunden und Stammgäste erkenne und mit Namen ansprechen kann. Und wie peinlich es mir ist, wenn ich jemanden nicht zuordnen kann.
Meine Taktik ist, erstmal die Leute nett anlächeln. Meist zeigt sich an der Reaktion, ob sie mich kennen oder nicht. Im Gespräch finde ich dann oft Anhaltspunkte, die mir beim Erkennen helfen. Aber das klappt leider nicht immer.
Mittlerweile warne ich Menschen vor, die ich neu kennen lerne:
Bitte nimm es mir nicht übel, wenn ich dich nicht erkenne.
Zeig einfach, dass du mich kennst, nenne mir deinen Namen und gib mir einen Hinweis.
Namen, Geburtstage und persönliche Geschichten merke ich mir übrigens sehr gut.
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Ruprecht Frieling (Sonntag, 17 Februar 2019 23:10)
Den Test habe ich mit jämmerlichen 53 Prozent absolviert und das meiste davon geraten … also, Du bist Spitze im Erkennen von Gesichtern. ;)
Katja (Mittwoch, 20 Februar 2019 19:52)
Das ist ja verrückt! Lieben Dank für die Aufklärung über dieses Phänomen - es ist nämlich sehr schwierig sich vorzustellen dass es so etwas gibt, wenn man selbst absolut kein Problem damit hat sich Gesichter zu merken. Den Test muss ich mir mal noch anschauen... :)
Susanne Höhne von Beuteltier Art (Donnerstag, 21 Februar 2019 20:16)
Hallo Ruprecht, ja, ich habe auch viel geraten. Dann bist Du vermutlich ebenfalls gesichtsblind. Hast Du es schon gewusst?
Hallo Katja, das glaube ich, dass kann man sich nur schwer vorstellen und es klingt komisch. Ich kann mir z.B. nicht vorstellen, Rot und Grün als gleiche Farbe zu sehen. Aber gesichtsblind war ich ja schon immer - ich hab mich immer gewundert, wie andere das so gut hinkriegen.